In seinem Werk findet man
groteske Naturbeschreibungen,
aber auch Berichte
über natürliche und gemütliche Lebensformen
der alten Türkei und in der DDR,
die heute nicht mehr existieren.
In diesem Buch wird der Rebell Erol gegen Naturfeinde im Wald von Marmaris kämpfen, danach fährt er nach Deutschland, um zu studieren. Er wird Euch berichten, was die Menschen in diesen so genannten modernen Ländern gewonnen und was sie verloren haben. In Kreuzberg befreundet er sich mit seinem Nachbarn, einem Rentner, der ein Boxer war. So wird er in Berlin wieder in Boxringe steigen und neue Erfolge erzielen. Aber seine Erfolge werden ihn nicht glücklich machen, er wird sich entscheiden in die DDR zu gehen.
Abschnitt Seite 109-116
Sport kennt keine Grenzen, keine Rassen
95 An einem Sonntag schloss ich mich in meinem Zimmer ein, um in meinen Büchern zu lernen, als ein erneuter Asthmaanfall Peter heimsuchte. Er bekam keine Luft, so als befände er sich unter Wasser. Mein Gott, was für herzzerreißende Geräusche. Wahrscheinlich hatte mir deshalb mein Vermieter diese Wohnung ohne Kaution vermietet. Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten, trat an Peters Tür und klingelte. Aus dem Treppenhaus stieg eine feuchte Kälte empor. Auf der Klingel stand Peter Müller. Typisch, ein Drittel der Deutschen heißt Müller, ein Drittel Meier und das letzte Drittel hat verschiedene Nachnamen. Endlich hatte Peter die Türe geöffnet. Als er mich mit blauem Gesicht ansah, sagte er:
„Was willst Du?“
„Herr Müller, kann ich Ihnen irgendwie helfen, ich habe mitbekommen, dass Sie wieder einen Anfall haben, darf ich rein?“
„Keiner kann mir helfen, nur der Tod. Aber komm trotzdem rein.“
Das Zimmer des Mannes war Mitleid erregend. Nicht nur das Zimmer, auch der Ofen war eiskalt, alles lag durcheinander. Auf dem Tisch lag eine halbe Scheibe Brot, mit Butter bestrichen und mit Salami belegt, und ein halber Apfel. In der Ecke stand ein alter Schwarzweißfernseher, an den Wänden hingen verblasste Bilder, die Peter in jungen Jahren und seine Familie zeigten. Nicht nur Peters Bilder und Peters Jugend, auch Peter wirkte verblasst. Ich fragte ihn:
„Warum ist Ihr Zimmer so kalt, Herr Müller?“
„Ich fühlte mich heute zu schwach, um den Ofen anzuzünden.“
Er meinte mit dem Ofen einen alten Kachelofen, der sehr lange brauchte, bis er warm wurde. Ich fragte mich, wie es dieser alte Mann schaffte, täglich aus dem Keller die Kohle hoch zuschleppen.
„Herr Müller, holen Sie täglich selbst Kohle aus dem Keller? Haben Sie denn keine Kinder, die Ihnen helfen könnten?“
Peter winkte müde ab. Diese Geste bedeutete, lass mal, frage nicht. Aber er schüttete mir dann doch sein Herz aus.
„Na ja, sie rufen pro Jahr ein paar Mal an und einmal besuchen sie mich. Sie bringen mir einen Strauß Blumen und einen Kuchen, den sie beim Kaffeetrinken selbst zur Hälfte aufessen. Mein Sohn liest die Briefe von den Behörden und nimmt die Rechnungen mit. Wenn meine Schwiegertochter dann den Abwasch erledigt hat fühlen sie sich befriedigt, sie haben ihre Arbeit getan. Dann gehen sie bis zum nächsten Jahr. Das Alter ist etwas Schlimmes, mein Junge, ich kann es Dir gar nicht beschreiben.“
„Gut, gut, dann zeige mir eine Ecke, in welche ich Kohle, ausreichend für eine Woche, legen kann.“
Als ich einen Vorrat Kohle aus dem Keller geholt und ihm den Ofen angezündet hatte, kannte seine Dankbarkeit keine Grenzen. Er ergriff sein Portemonnaie und wollte mir für meine Bemühungen Geld geben. Als ich ablehnte, schüttelte er seinen Kopf und steckte das Portemonnaie wieder ein. Ich sprach die zweite Frage, die mir im Kopf herumging, aus:
„Herr Müller, obwohl Sie sehr krank sind, rauchen Sie sehr viel. Warum denn eigentlich?“
Peter winkte wiederum ab.
„Das mache ich, weil ich sobald als möglich sterben will. Ich will nicht mehr leben. Das Leben hat mir nichts mehr zu bieten als Schmerz. Meine Lebensfreude ist erloschen. Alle Menschen, die ich mochte, sind bereits ins Jenseits gegangen, ich will zu Ihnen. Der Ort, an welchem sie sich befinden, kann nicht kälter und bedeutungsloser sein als hier. Das einzige, woran ich noch Spaß habe, sind meine Zigaretten. Gönne sie mir. Monatelang klopft kein Mensch an meine Türe, ich habe niemanden, mit dem ich reden kann.“
Dann sagte er:
„Aber heute bist Du gekommen, jetzt habe ich jemanden, mit dem ich mich unterhalten kann.“
Und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Seine Erzählungen waren unendlich. Ich musste ihm nur zuhören. Er hatte zwar einen Zuhörer gefunden, aber andererseits lagen da meine Bücher in der Nebenwohnung, ich musste dringend lernen. Innerlich sagte ich zu mir:
Erol, Du darfst dem Mann nicht das Vergnügen nehmen, lass ihn erzählen.
Der Ofen brannte geräuschvoll, strahlte jedoch keine Wärme aus. Erst mussten die Kacheln warm werden, dann konnte die Wärme auch ins Zimmer kommen. Ich nahm eine Decke von Peter und hüllte mich in sie hinein. Jetzt fror ich wenigsten nicht mehr. Peter bemerkte es natürlich und fragte mich:
„Wie lautet Dein Vorname, mein Junge?“
Ich antwortete:
„Erol!“
„Erol, Du frierst. Ich mache Dir einen heißen Kaffee.“
Aus der Küche breitete sich alsbald aromatisches Kaffeearoma aus. Dann bot Peter mir eine große Tasse Kaffee an, erzählte weiter und zog mich mit in seine Jugendjahre und in den Krieg.
„Ich bin nicht, wie die heutige Jugend, in zentralbeheizten Wohnungen, Schokolade und Bananen essend, Fernsehen schauend, mit Spielzeug überschüttet, aufgewachsen. Unser Spielzeug machten wir uns damals selbst. In unserer Küche stand ein großen Herd, meine Mutter stellte zwischen diesen und der Wand einen Tisch, damit ich meine Schularbeiten im Warmen erledigen konnte. Sie kochte auf diesem Herd Wasser, damit ich baden konnte. Die Toilette war, nicht wie heute in der Wohnung, sondern im Treppenhaus. Das Abort war im Winter so kalt, dass unsere Popos beinahe erfroren wären. Wir sind unter Hitlers Reden, die wir aus unseren alten Radios anhörten, aufgewachsen, unter seinen Reden sind wir in den Krieg gezogen. Danach haben wir ihn in den Bunkern gehört, uns Märchen erzählend, während Bomben auf uns hagelten. Wenn wir ein paar Kartoffel fanden, dankten wir Gott und dachten mitleidsvoll an diejenigen, die nichts hatten. Mein Vater und mein Bruder kämpften an der Front, mein Vater ist dort gefallen, mein Bruder in einem russischen Gefängnislager gestorben.“
An dieser Stelle seufzte Peter traurig auf:
„Dem Rest von unserer Familie, mir und meiner Mutti blieb die Aufgabe, die Scherben des Krieges zu beseitigen. Unter den heutigen Parkanlagen, in denen die Jugend sich heute küsst, liegen die Trümmer unserer Häuser. Wir haben den Schutt zusammengetragen und auf den daraus entstandenen Hügeln Parkanlagen angelegt und Wälder gepflanzt. Heutzutage ist alles vergessen.
Im Omnibus oder in der U-Bahn kann ich mit meinen zitternden Beinen nur mit großen Schwierigkeiten stehen. Die Jungen, die einen Sitzplatz haben, könnten alles meinen Augen ablesen, aber sie schauen mit leeren Augen umher, lassen sich in ihren Unterhaltungen nicht stören. Die Generation, die vor uns lebte, hinterließ uns Krieg und anschließend ein zerstörtes Berlin. Wir haben den kommenden Generationen ein modernes, wieder aufgebautes Berlin geschenkt. Aber wenn ich gewusst hätte, dass mir die heutigen Jungen noch nicht einmal einen Platz in der U-Bahn gönnen, hätte ich mich lieber mit den Trümmern des Krieges begraben lassen. Sag doch Erol, gibt es etwas, das mich noch mit dem Morgen verbindet? Für die Jungen sind wir nur interessant, wenn es um unser Geld geht. Wenn sie einen Vorteil sehen oder wenn wir ihnen etwas schenken, dann schmeicheln sie uns. Wenn wir das nicht tun, werden wir verachtet und als ‘senile Knacker’ bezeichnet. Nimm als Beispiel nur meine Kinder. Sie hatten von meinem Husten die Nase voll und wollten mich in ein Altersheim verfrachten. Da waren viele alte Menschen, die von allen möglichen Krankheiten geplagt wurden. Sollten sie meinen Husten auch noch ertragen müssen? Ich sagte meinen Kindern, dass ich dort nicht leben könnte, dann mieteten sie mir diese Wohnung an und setzten mich einfach hinein. Als meine Kinder klein und krank waren, habe ich sie etwa weggegeben? Wir unterscheiden uns nicht so sehr von den Kindern. Sie brauchen Hilfe, wir brauchen Hilfe. Aber auf die Kinder wartet ein warmes, reiches Leben, die ganze Welt, während auf uns nur noch das kalte Grab wartet. Obwohl wir die Wahrheit kennen, sind wir artig, bleiben ruhig, randalieren nicht, begehren nicht auf, wehren uns nicht gegen das Schicksal. Ohne jede Ausnahme ist jeder Alte ein Held.“
Hier musste ich Peter unterbrechen:
„Peter, wenn die heutigen Jugendlichen Dir im Bus oder in der U-Bahn keinen Platz gönnen, so ist das nicht ihre Schuld. Das ist die Schuld derjenigen, die sie erzogen haben. Wenn ein Kind auf diese Welt gebracht wird, fängt es bei Null an. Es weiß überhaupt nichts. Was Du ihm erzählst, wird es glauben, was Du ihm beibringst, lernen. Wenn die Gesellschaft die älteren Menschen nicht respektiert, kann die Jugend ja gar nicht anders sein. Die heutige kapitalistische Moral basiert nur auf Geld. Alles für das Geld. Man wird auf Geld regelrecht programmiert. Wer moralische Werte achtet, wird als Verlierer angesehen. Dieses falsche Rädchen wird den Jungen eingegeben, greift in deren Getriebe und führt zur Fehlerhaftigkeit. Sie haben es nie gelernt, an die Bedürfnisse alter Menschen zu denken. Wenn es so weitergeht, werden sie es auch niemals tun. Das ist Verrat am Leben, Verrat am Menschen, ein Teufelskreis, denn eines Tages sind die heutigen Jungen auch alt und werden die Einsamkeit, die Du schilderst, noch schlimmer am eigenen Leib erleben. Die Welt geht in eine falsche Richtung!“
Peter hatte von mir nicht erwartet, dass ich so denke und fühle. Er war sehr aufgewühlt. Er ging zum Schrank, nahm einen silbernen Pokal und hielt ihn mir hin:
„Erol, Du bis ein ungewöhnlicher Junge, ich kann Dich verdammt gut leiden. Bitte nimm einen von meinen Pokalen, die ich mit meinen Fäusten gewonnen habe. Ich schenke ihn Dir.“
Freudig bestürzt fragte ich:
„Wie bitte, Peter? Du warst auch ein Boxer?“
Ich wollte ihm nicht mit Worten, sondern plastisch erklären, dass auch ich Boxer bin, stand auf, nahm die typische Angriffsposition ein und streckte meine Faust aus bis kurz vor das Gesicht von Peter. Peter reagierte blitzschnell und nahm die Defensivposition ein. Seine faltigen Fäuste zitterten, aber zeigten die richtige Position, er schützte mit seiner linken Faust sein Gesicht. Ich klopfte leicht auf seine Faust, dann versuchte er, eine Angriffsposition einzunehmen. Als ich mein Gesicht schützte, schlug er mich mit seiner zitternden Faust. Eine Weile blieben wir so stehen, uns in die Augen schauend. Wir erkannten in unserem jeweiligen Gegenüber den echten Boxer. Instinktiv umarmten wir uns, mich überkamen Gefühle, die ich bis dato noch nicht kennen gelernt hatte. Peters Nase war gerötet, seine Augen feucht.
Sport ist etwas Schönes. Er kennt keine Grenzen, keine Rassen, weder Alt noch Jung, so lässt er die Menschen einander umarmen.
So wurden wir zwei echte Freunde, wie das Fleisch vom Knochen, nur unter Schmerzen trennbar.
Ich übernahm seine Einkäufe, weil Berlin in diesem Jahr einen kalten Winter erlebte, die Straßen waren für meinen Freund zu gefährlich, teils eisig und teils matschig.
In diesem Jahr in Berlin herrschte Schnee und Eiseskälte,
Peters Zimmer war dunkel, aber warm.
Unsere Unterhaltungen waren tief,
unsere Herzen schlugen im Einklang.